Vorheriger Beitrag
Der biblische Prophet Jona hätte Augen gemacht: Der Wal am Schiffsanleger trägt eine Zahnspange! „Aus Gründen der Sicherheit“, flicht Christian Garbrecht ein, „mehr als ein Mitglied unserer Besatzung hat sich an den Walzähnen schon den Kopf gestoßen. Deshalb wurden sie von einem Bogen eingefasst.“ Es sieht tatsächlich wie ein großer Draht aus. Die Besatzung, das ist das Team der Stern-und-Kreis-Schifffahrt an Bord der MS Moby Dick. Sie ist auch am 17. August dabei, wenn um 10.45 Uhr auf dem Fahrgastschiff im Tegeler Hafen Gottesdienst mit der Berliner Gasthausmission gefeiert wird. Ein Traditionsformat, das jeden Sommer sein Publikum lockt: Mitarbeitende der Berliner Gastronomie und Hotellerie, Mitglieder der umliegenden Kirchengemeinden, Gäste, die über die sozialen Medien oder den Newsletter der DEHOGA von der Veranstaltung erfahren haben, Touristen. „Beeil‘ dich, Jona“, ist das diesjährige Gottesdienst-Motto. Warum, dürfte klar sein – damit, an Bord zu kommen, denn die Plätze im Bauch des 48-Meter-Wals sind begehrt. Statt nach Ninive orientiert sich Jona Richtung Tegel, die MS Moby Dick liegt dort an der Greenwichpromenade.
150 Gäste haben Christian Garbrecht, Vertriebsmitarbeiter bei Stern und Kreis, und Pfarrer Hans-Georg Filker von der Gasthausmission voriges Jahr gezählt. „Obwohl das Wetter nicht mitspielte und der Gottesdienst kurzfristig unter Deck verlegt werden musste“, erinnern sich beide. Einige Teilnehmende blieben trotzdem an der frischen Luft sitzen, weil es wahrhaftiger war, dem Evangelium von Wind und Wellen zu lauschen, wenn man beides vor Augen hatte. Und weil der vordere Salon bis auf den letzten Platz besetzt war. „Der Gottesdienst wurde in den hinteren Salon und nach oben übertragen, wird er auch dieses Mal wieder“, betont Garbrecht, während er prüfend den Blick übers Wasser schweifen lässt. An diesem Vormittag treibt erneut der Wind Wellen vor sich her. Dazu scheint kräftig die Sonne.
Tegel ist der Heimathafen des augenfälligsten Schiffs der Reederei, das sogar Motiv einer Briefmarke war. 52 Jahre zählt der silbern glänzende, schwimmende Wal, mit dem Christian Garbrecht viele Nichts-wie-hin-Jona-Momente teilt. „Die Moby Dick wurde in einer Werft an der Weser gebaut. Als sie nach Berlin-Wannsee überführt wurde, war das ein Riesending“, schwärmt er. „Ich hab mich als Junge schon für Schiffe interessiert und bin mit extra hingefahren, damals mit der Buslinie 66.“ Als Wal gebaut und 1973 in Betrieb genommen, ist die MS Moby Dick der perfekte als Gottesdienst-Ort. Wiewohl die Geschichte des Propheten Jona keine jährliche Wiederholung erfahre, sagt Hans-Georg Filker, „aber Wasser oder Boot, eins von beiden ist in der Predigt doch bestimmend.“
Seit 30 Jahren halten Filker und die Reederei als Partner die Schiffsgottesdienste ab, nicht durchgehend aber überwiegend auf der Moby Dick, seit einem guten Jahrzehnt mit der Gasthausmission als Veranstalterin, zuvor mit der Berliner Stadtmission. Der Wirtestammtisch der DEHOGA hält sein jährliches August-Treffen an Bord ab und nimmt am Gottesdienst teil, etliche Mitglieder sind zugleich der GaMi verbunden. Anstelle von Gesangbüchern wird ein Liedblatt ausgefertigt, ein E-Piano ersetzt die Orgelbegleitung – nur der Altar bleibt Altar. Christian Garbrecht, Gemeindemitglied in seinem Heimatbezirk Frohnau, zehrt lange von den fröhlichen Gesichtern und inspirierten Äußerungen der Gottesdienst-Gäste. Für das Unternehmen Stern und Kreis kümmert er sich um die Organisation des Termins. Ein Anliegen, das Garbrecht unter seinen Kollegen vertritt, „aus Überzeugung“, sagt er, der besondere Gottesdienst auf dem Wal habe „seinen Platz“.
Initiiert hatte das Format 1994 die Geschäftsführung der Reederei. „Dem damaligen Chef war es nicht möglich, sonntags in den Gottesdienst zu gehen – er hatte Dienst.“ Stattdessen holte er sich die Kirche ins Boot. Eine Situation, die Mitarbeitende in der Gastronomie kennen: Dass Dienstplan und Gottesdienst konkurrieren.
Text & Fotos: Tanja Kasischke